Das Reisetagebuch, eine Ode an die Freiheit und die Kontemplation

Es ist ein kleines Notizbuch, das zur Entschleunigung und zur Kontemplation verführt. Sobald man ihm Fragmente des Lebens anvertraut, verwandeln sich seine leeren Seiten in ein persönliches Reisetagebuch, das von nah und fern, von Realität und Fantasie inspiriert ist. Seit kurzem würdigt ein Schweizer Verein diese kreative Praxis, die keine Grenzen kennt.
19 juin 2025 Fabienne Défayes
Michel Krafft.
© Valentin Flauraud
© Valentin Flauraud
Michel Krafft.
© Valentin Flauraud
© Valentin Flauraud
© Valentin Flauraud

«Die Reise? Sie beginnt schon an der Haustür, wenn nicht sogar in unserem Inneren.» Für Michel Krafft, der seit mehreren Jahrzehnten Reiseberichte schreibt, ist es das Medium der Wahl, um Erlebtes mit Bildern und Texten festzuhalten und weiterzugeben. «Mit dem Tagebuch kehrt Gelassenheit ein.»

Die Gestaltung von Reisetagebüchern lässt sich bis in die Renaissance zurückverfolgen. Dennoch verbinden wir sie vor allem mit den grossen Forschungsreisen des 19. und 20. Jahrhunderts, einer Zeit, die von der Entdeckung neuer Länder geprägt war. Naturforscher, Anthropologen und andere Wissenschaftler dokumentierten ihre Beobachtungen in Notizbüchern und veröffentlichten sie nach ihrer Rückkehr nach Europa. Neben bekannten Vertretern wie Charles Darwin, James Cook, Paul Gauguin oder Nicolas Bouvier gab es unzählige Künstler und Autoren, die ganze Seiten mit ihren Reiseberichten füllten.

Zu den begeisterten Anhängern dieser Praxis zählten auch einige Monarchen, darunter Königin Victoria. Sie hielt ihre Reise in die Schweiz im Jahr 1868 in einem Aquarellheft mit Landschaften und bäuerlichen Szenen fest. Das wertvolle Tagebuch wird heute im Landesmuseum in Zürich aufbewahrt.

Eine Kunstform für alle

Ein Reisetagebuch weckt in uns automatisch den Duft von fernen Ländern und von Exotik. Wenn wir aber glauben, dieses Medium sei allein den grossen Weltenbummlern vorbehalten, dann unterschätzen wir sein Potenzial. In erster Linie handelt es sich um eine für jedermann zugängliche Kunstform, die zum Innehalten einlädt und den Alltag oder einen persönlichen Lebensübergang begleitet. Dabei kommen verschiedene Techniken wie das Zeichnen, Malen, Schreiben, Collagen usw. zum Einsatz. Man muss aber kein Zeichentalent sein, um ein Reisetagebuch zu gestalten.

Der 2019 gegründete Verein Les Carnettistes Helvétiques zählt heute 150 Mitglieder. Während das Genre in Frankreich und Italien einen regelrechten Boom erlebt, hatte sich in der Schweiz bis dahin kein entsprechendes Kollektiv etabliert. Die Idee zur Vereinsgründung kam den vier Gründungsmitgliedern Michel Krafft, Éliane Monnier, Emmanuelle Ryser und Pascale Stauffer nach dem Besuch des Festivals Rendez-vous International du Carnet de Voyage in Clermont-Ferrand.

Nun möchten auch sie die hierzulande kaum bekannte Kunst des Reisetagebuchs und den Austausch zwischen Reisetagebuchautorinnen und -autoren, den sogenannten «Carnettisten», fördern. Vor allem aber organisieren sie das erste Festival, das dem Reisetagebuch in der Schweiz gewidmet ist: die Journées du Carnet de Voyage (JOCAV). Nach dem Erfolg der ersten beiden Ausgaben im Jahr 2021 und 2023 wird die Biennale auch 2025 fortgesetzt.

Ein Fest für Carnettisten

Vom 3. bis 5. Oktober 2025 organisiert der Verein Les Carnettistes Helvétiques in Orbe (VD) die dritte Ausgabe der Journées du Carnet de Voyage (JOCAV). Das Festival vereint rund zwanzig Aussteller aus der Schweiz, Frankreich und Belgien und bietet kreative Workshops, eine Konferenz sowie ein Kinderprogramm. Es findet in der Altstadt statt und bezieht Kulturräume, Cafés und Geschäfte mit ein. Freier Eintritt. Die Workshops sind reservierungs- und kostenpflichtig. Das vollständige Programm wird im August bekanntgegeben.

Weitere Infos carnettisteshelvetiques.ch

Sein Innerstes zum Ausdruck bringen

Ein leeres Tagebuch aufschlagen und es zur Leinwand machen, auf der man die Welt um sich herum festhält: Jeder kann ein Reisetagebuch kreieren. «Jeder kann das Büchlein auf seine eigene Weise gestalten», sagt Éliane Monnier, die ihr Atelier du Baobab im Herzen von Lavaux eingerichtet hat und diese Kunst an ihre Schüler weitergibt. Sich ohne Selbstkritik ganz frei ans Zeichnen zu wagen, bedeutet, die Spontaneität der Kindheit wiederzuerlangen. Ein und dieselbe Landschaft kann auf vielfältigste Weise interpretiert werden. Die Expertin fügt hinzu: «Das Reisetagebuch einer Person zu lesen, sagt viel über sie aus.»

Die Reise? Sie beginnt schon an der Haustür, wenn nicht sogar in unserem Inneren.

Der künstlerische Werdegang von Éliane Monnier ist massgeblich durch ihren sechsjährigen Aufenthalt in Mosambik geprägt. Nach ihrer Rückkehr in die Schweiz unternahm sie mehrere Reisen nach Afrika und traf zahlreiche Künstler. Es ist eine entscheidende Zeit, die sie dazu bewegt, die Kunst zu ihrem Hauptberuf zu machen. Heute gibt sie Kurse zu Hause und Workshops im Ausland. «Das Reisetagebuch hat überall seinen Platz», erklärt sie und fügt hinzu: «Für einen Kurs zum Thema Zuhause hat eine Schülerin beschlossen,
von ihrem Umzug zu erzählen. Alles, was sie nicht mitnehmen konnte, hat sie in ihr Skizzenbuch gezeichnet – als Trost.»

Wenn das Reisetagebuch also dazu dient, derart intime Geschichten zu erzählen, sollte man es dann mit anderen teilen? «Es dient als Bindeglied», erklärt sie. «Man drückt etwas Intimes aus, aber indem man es mit anderen teilt, schafft man Raum für Begegnungen.»

Erinnerungen festhalten

Für manche ist das Reisetagebuch ein Mittel, um die Realität festzuhalten, während andere in ihm ein Experimentierfeld ihrer Fantasie sehen. Letzteres trifft auf Nicole Scherer zu. «Ich arbeite in zwei Bereichen: dem Exotischen im Alltag und der Erkundung imaginärer Welten», erklärt die ECAL-Absolventin und Zeichenlehrerin.

Heute ist sie im Ruhestand und widmet sich zu Hause, auf Zug- und Flugreisen oder im Café ihren Skizzenbüchern. Sie interessiert sich leidenschaftlich für Menschen und hält mit Feder, Kugelschreiber oder Aquarellfarben Szenen aus dem Leben fest. «Ich stelle dar, was ich um mich herum sehe. Mein Blick ist nach aussen gerichtet. Bei meinen Reisetagebüchern lasse ich mich wiederum von meiner Intuition leiten. Ich beginne mit einer Collage und zeichne ohne bestimmte Absicht drum herum. Es geht darum, eine innere Welt entstehen zu lassen.»

Auch wenn «Carnettisten» ihr Medium auf tausend verschiedene Arten verstehen, sind sie sich in einem Punkt einig: Ein Reisetagebuch hält Erinnerungen fest. «Wenn man sich die Zeit nimmt, sie anzuschauen, kommen die Emotionen zurück», verrät Nicole Scherer. «Ohne die Zeichnungen hätte ich diese Momente vergessen. In diesen Seiten steckt in gewisser Weise mein ganzes Leben.»

Sich ohne Selbstkritik ganz frei ans Zeichnen zu wagen, bedeutet, die Spontaneität der Kindheit wiederzuerlangen.

Für Michel Krafft ist es die physische Beschaffenheit des Reisetagebuchs, die es erlaubt, Erinnerungen zu verinnerlichen. «Man zeichnet mit der Hand, und das geht direkt ins Herz.» Er liebt Schwarz-Weiss-Zeichnungen, die er bisweilen mit Aquarellfarben akzentuiert. «Ich fertige meine Skizzen mit Tusche an, um das Gefühl des Augenblicks direkt einzufangen.»

Wenn man ihn bittet, sich eine schöne Erinnerung wieder ins Gedächtnis zu rufen, erzählt er von Marokko. «Montags ist Bauernmarkt. Ein grosser Platz füllt sich mit Händlern, Tieren und Textilien. Und ich setze mich mitten in die Menge, um zu zeichnen und diese Stimmung einzufangen.»

Praxis-Tipps: Was brauche ich, um loszulegen?

Die goldene Regel Achten Sie auf eine platzsparende Ausrüstung, damit Sie sie überallhin mitnehmen können.

Tagebuch Beginnen Sie im kleinen Format. Testen Sie verschiedene Ausrichtungen und Kompositionen und achten Sie darauf, dass sich das Papier für die gewählte Technik eignet. Für Aquarelle ist eine hohe Grammatur erforderlich.

Stifte Ein HB-Bleistift und ein Radiergummi für Skizzen. Wahlweise andere Buntstifte, Filzstifte, eine Feder …

Farben Ein Aquarellfarbkasten mit den Grundfarben, Pinsel (es gibt sie mit praktischem Wassertank), eine Flasche Wasser und ein Tuch.

Etui oder Mäppchen Zum Verstauen der Malutensilien, vorzugsweise aus wasserabweisendem Material.

Das i-Tüpfelchen Stempel, Fahrkarten, Eintrittskarten für Museen oder Cafés … Lassen Sie Ihrer Kreativität freien Lauf!

Sobald Sie Ihre Mal- und Zeichenutensilien beisammen haben, heisst es üben, üben, üben. Nutzen Sie eine Pause im Alltag, um Ihr Büchlein zu füllen. Ob im Café, im Park oder zu Hause – werden Sie eins mit Ihrer Umgebung und beobachten Sie. Wenn Sie gerne zeichnen, fertigen Sie Skizzen von Landschaften, Personen, Gebäuden oder anderen interessanten Details an, die Ihnen ins Auge fallen. Schreiben Sie Ihre Erlebnisse, Begegnungen und Emotionen auf. So wird Ihr Reisetagebuch zu einem echten Erlebnisbericht, auch wenn Sie nur einen Katzensprung von zu Hause entfernt sind.

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