Der Geschmack der Alpen
Als die ersten Sonnenstrahlen die Kirchturmspitze von Stans berühren, setzen sich die Glocken in Gang, fast so, als hätten sie nur auf ein Zeichen gewartet. Sanftes Licht fällt auf die weissen Mauern der historischen Gebäude, um die sich gepflasterte Gassen winden. Die gedrungene Silhouette des ehemaligen Kapuzinerklosters erstreckt sich am Fusse des Hügels; sie scheint über die kleine Ortschaft zu wachen, die nur einen Steinwurf vom Vierwaldstättersee entfernt liegt. Die nüchterne Architektur des Bauwerks aus dem 16. Jahrhundert hebt sich von der umliegenden Pflanzenpracht ab. Es ist nicht zu übersehen: Zwanzig Jahre, nachdem die letzten Kapuzinerinnen das Frauenkloster verlassen haben, erlebt das Haus eine zweite Blütezeit, und zwar als Kompetenzzentrum für die Regionalkulinarik im Alpenraum. Auf Initiative des Zürcher Autors und Ernährungshistorikers Dominik Flammer kam es zur Gründung der Stiftung KEDA («Kulinarisches Erbe der Alpen») und schliesslich zur Umnutzung des Klosters, das heute europaweit als ein bedeutender Ort des Austauschs und des Dialogs fungiert.
Winkelried und der Gemüsegarten
Wir treffen uns an diesem Spätsommermorgen nicht am Eingang des ehrwürdigen Klosters, sondern etwas weiter unten, gegenüber dem Denkmal, das dem Lokalhelden Arnold Winkelried gewidmet ist. Noch immer ertönt das Geläut der Glocken, als Peter Durrer auf seinem Velo eintrifft. «Wir beginnen mit einem Gang durch den Garten, wenn das in Ordnung ist?» Mit dem Weidenkorb in der Hand geht es in den ausgedehnten Hanggarten, der mit alten Tomatensorten und allerlei essbaren Blüten übersät ist. Wir ernten Schnittlauch, Estragon und Zitronenthymian. «Kräuter sollte man am Morgen ernten. Ihr Geschmack ist viel intensiver, wenn ihre Blätter noch frisch sind.»
Ein Aufenthalt fernab von Zeit und Hektik
Sie haben schon immer davon geträumt, in einem Kloster zu übernachten? Lassen Sie Ihren Besuch des Culinarium Alpinums im hauseigenen Restaurant ausklingen und runden Sie dieses eindrückliche Genusserlebnis mit einem Aufenthalt ab. Alle vierzehn Zimmer wurden stilvoll und unter Berücksichtigung der historischen Bausubstanz renoviert und gewähren Ihnen einen ungleich komfortableren Einblick in das einstige Leben der Kapuzinerinnen. Zudem sorgt das aussergewöhnliche Frühstücksbuffet, das ausschliesslich aus lokalen Spezialitäten besteht, für einen gelungenen Start in den Tag.
Kräuter sollte man am Morgen ernten. Ihr Geschmack ist viel intensiver, wenn ihre Blätter noch frisch sind.
Kulinarische Schätze im Kellergewölbe
Wenn man Peter Durrer mit der Gartenschere in der Hand und den Schweissperlen auf der Stirn so im Grünen stehen sieht, vergisst man, dass er der Direktor des Culinarium Alpinums ist. Nachdem er führende Positionen in verschiedenen Luxushotels im ganzen Land bekleidet hatte, konnte er der Herausforderung einfach nicht widerstehen, an einem geschichtsträchtigen Ort ultralokal zu arbeiten. Mittlerweile beherbergt der Komplex ein Hotel und ein mit 14 Gault&Millau-Punkten ausgezeichnetes Restaurant. «Ich habe noch nie verstanden, warum ein gastronomischer Betrieb um jeden Preis Garnelen und exotische Lebensmittel anbieten muss, wo wir doch so viele Schätze vor der eigenen Haustür haben», sagt er. «Wenn wir auf die Herkunft und die Saisonalität achten, erkennen wir den wahren Wert unserer Produkte.» Er unterbricht, um in einen Koriandersamen zu beissen: «Probieren Sie das. Fantastisch, nicht?»
Als wir unsere Ernte in der Küche ablegen, heizt die Sonne die Klosterfassade bereits auf. In den stillen, langen Gängen ist es hingegen angenehm kühl. Steintreppen, Innenhöfe und Heiligenskulpturen atmen die Erinnerung an Jahrhunderte der Kontemplation. Peter Durrer drückt eine Hölztür auf und führt uns durch einen versteckten Gang in einen Gewölbekeller. Der Geruch ist unverkennbar: Bei den gewaltigen Laiben, die sich über die gesamte Breite an der Wand auftürmen, handelt es sich um Alpsbrinz. Er wird in den benachbarten Alpkäsereien hergestellt und reift hinter den altehrwürdigen Klostermauern unter der sorgsamen Aufsicht des Dorfkäsers heran.
Ein anderer Gang, eine andere Tür, und erneut finden wir uns in einem Kellergewölbe wieder. In diesem lagern die Schätze des Culinarium Alpinums: ein kleiner, langgezogener Raum, der im Schein eines Kellerfensters hunderte Einmachgläser, Sirupe und laktofermentierte Zubereitungen aufbewahrt, die es dem Team des Restaurants ermöglichen, das ganze Jahr über lokale Leckereien zu servieren.
«Es ist unsere Aufgabe, zu zeigen, dass es selbst im Hotel- oder Restaurantbetrieb möglich, nachhaltig und wirtschaftlich tragbar ist, ausschliesslich auf lokale Produkte zu setzen.» Die kurzen Wege im Alltag sind ein weiteres Argument: Die Erzeuger liefern ihre Waren direkt an die Küche und es kommt immer wieder vor, dass das Team – je nach Warenlieferung und Wetterlage – die Speisekarte ändert. «Ich glaube, unsere Köche könnten in einem herkömmlichen Restaurant gar nicht mehr arbeiten», sagt Peter Durrer. «Es ist faszinierend und erfordert Kreativität, diese Produkte jeden Tag aufs Neue zu interpretieren.»
Wettbewerb für alpine Produkte
ALP’24 nennt sich der neue Wettbewerb für handwerklich produzierte Erzeugnisse aus dem Alpenraum, der erstmals Anfang November in Stans ausgetragen wird. Der von der KEDA lancierte International Alpine Food Contest steht Handwerksbetrieben aus sieben Ländern und fünf Produktkategorien – von Käse bis Spirituosen – offen. Er orientiert sich am Schweizer Wettbewerb der Regionalprodukte. Die Degustationen werden durch eine Fachjury vor Ort im Rahmen der Veranstaltung durchgeführt. Ziel von ALP’24 ist es, die kulinarischen Schätze der Alpregionen bekannter zu machen und ihre Akteure über die Grenzen hinweg zu vernetzen.
Preisverleihung, Forum und grosser Degustationsmarkt für alle im Culinarium Alpinum in Stans vom 8. bis 10. November
Dem Verlust von Wissen entgegenwirken
Zum Verweilen bleibt keine Zeit. Ein Gang durch die Klosterkirche und die Kursküche, in der Schulungen und Workshops zur Zubereitung von alpinen Spezialitäten, Wurstwaren und Sauerteigbrot angeboten werden, führt uns wieder auf die lange, lichtdurchflutete Terrasse. An den Tischen mischen sich einheimische Bauern unter Geniesser aus dem Ausland. Die Begegnung dieser auf den ersten Blick so verschiedenen Welten zu fördern, zählt zu den Missionen der KEDA-Stiftung, die 2019 zur Weiterentwicklung des Culinarium Alpinums ins Leben gerufen wurde.
«Das Ziel der Stiftung ist es, das Ernährungswissen des Alpenraums zu dokumentieren und zu bewahren», fasst Marie Pfammatter, Leiterin für landwirtschaftliche Projekte innerhalb der Stiftung, zusammen. «Fähigkeiten und Wissen gehen im Laufe der Generationen verloren. Dabei sind sie von grossem Wert, sowohl unter dem Aspekt des Kulturerbes als auch, weil sie ein möglicher Schlüssel zur Sicherung unseres zukünftigen Lebensunterhalts sein können.»
Wissen, das allmählich verblasst, zusammentragen, bewahren und weitergeben – eine Mammutaufgabe. Sie geht unweigerlich mit der Vernetzung von Landwirten und Produzenten mit der Gastronomie-, Hotel- und Tourismusbranche einher. Umso mehr, da die Stiftung diese Mission auch auf internationaler Ebene angehen will. Denn obwohl die Alpenkette über 1200 km lang ist und sich von Frankreich über Deutschland und Slowenien bis nach Österreich erstreckt, vereint sie unzählige Traditionen, die zugleich einzigartig und dennoch eng miteinander verbunden sind. Dazu gehören vergleichbare Praktiken wie der Alpaufzug im Sommer oder auch Erzeugnisse – die Ähnlichkeit zwischen Alpsbrinz und Parmesan ist nicht zu leugnen.
Ein essbarer Garten
Derzeit werden die ersten Projekte auf lokaler Ebene realisiert. «Eines davon beinhaltet die Aufwertung der regionalen Getreide- und Gemüseproduktion», erklärt Marie Pfammatter. «Die lokale Wirtschaft basiert heute weitgehend auf der Viehwirtschaft. Vor fünfzig Jahren war das noch anders. Damals wurde eine weitaus diversifiziertere Landwirtschaft betrieben.» Hierfür muss ein solides Vertrauensverhältnis zwischen den Verbrauchern und den Landwirten aus der Region aufgebaut werden. Ein Austausch, der immer wieder Überraschungen bereithält. Es ist dem Zufall zu verdanken, dass das Team vom Nidwaldner Edelsaft erfuhr. Das mündlich überlieferte Rezept des verblüffenden Schaumweins auf Apfelbasis wäre um ein Haar verloren gegangen.
Doch der Besuch ist noch nicht zu Ende. Wir folgen der Agraringenieurin auf den schmalen Wegen, die sich durch den grossen Klostergarten schlängeln. Dieser ist weit mehr als eine einfache Grünfläche: Jede Pflanze und jede Frucht ist essbar. «Dieser Ort erfüllt zwei Funktionen: Er soll uns zeigen, dass ein Garten gleichzeitig schön und nahrhaft sein kann. Und er soll uns Arten wieder näherbringen, die wie die Quitte oder die Mispel vielerorts in Vergessenheit geraten sind, weil sie angeblich zu wenig Ertrag einbringen.» Im Naschgarten des Culinarium Alpinums stehen die alten Sorten und die veredelten Versuchsbäume dicht beieinander. Auch hier zeigt sich, dass sich Vergangenheit und Gegenwart nahtlos ineinanderfügen.
+ d’infos: www.culinarium-alpinum.com
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