Val de Travers: die Geheimnisse des smaragdgrünen Tals
Hohe Fichten in sattem Grün säumen die Strasse und verdecken eine Sonne, die uns erst an der Talsohle wieder begegnen soll. Hinzugesellen sich einzig vom Graublau der Trockenmauern durchbrochene, kaisergrüne Weiden. Und dann wäre da noch das Absinthgrün, dieser pastellene Farbton, benannt nach der Pflanze, die dem Val de Travers einst seinen Ruhm einbrachte. Die abgeschiedene Region im Herzen des Jura-Massivs steht Irland, der «Grünen Insel», in nichts nach.
Schnell ist klar, welchen Anlaufpunkt wir auf unserer Reise als erstes ansteuern: das Maison de l’Absinthe. Das ansehnliche weisse Gebäude im Dorfkern von Môtiers (NE) ist ein Beispiel für die Dynamik einer Region, der es gelingt, die Schätze ihres Terroirs zu nutzen und sich auf der touristischen Landkarte zu etablieren. Das vor gut zehn Jahren eröffnete Museum, das auch eine Bar, eine kleine Boutique und ein Postamt beherbergt, hat sich zum regionalen Anziehungspunkt gemausert.
Der moderne, lichtdurchflutete Ausstellungsraum lockt mit interessanten Führungen, die – wie sollte es anders sein – mit einer Verkostung enden. Im Rahmen kulinarischer Workshops lässt sich zudem das ganze geschmackliche Potenzial ergründen, das in der Grünen Fee steckt. Rund 15’000 Besucher empfängt das Museum jährlich. «In diesem Gebäude war früher eine Polizeiwache untergebracht», erzählt Museumsdirektor Raphaël Gasser schmunzelnd. «Eine schöne Ironie der Geschichte, nicht wahr?»
Eine wohlgehütete Rezeptur
Auch zwanzig Jahre nach seiner Rehabilitierung denkt man beim Thema Absinth unweigerlich an das fast hundertjährige Verbot des sagenhaften Destillats. Eine Volksinitiative führte im Jahr 1910 zum Destillations- und Verkaufsverbot der Grünen Fee, von der man behauptete, sie würde einem den Verstand rauben.
In den Häusern des Val de Travers, in denen das überlieferte Wissen von Generation zu Generation weitergegeben wurde, tauchten daraufhin geheime Destillierapparate auf. Die skandalumwitterte Legende nahm ihren Lauf. In den dichten Wäldern des Tals soll in der Nähe fast jeder Quelle ein geheimes Versteck eingerichtet worden sein, in dem eingeweihte Spaziergänger eine Flasche des verpönten Getränks vorfanden, deren Inhalt nur darauf wartete, sich mit dem frischen Quellwasser zu vermischen.
Seit dieser Zeit hat sich viel getan. Der Absinth, die einst berüchtigte Muse der Dichter und Denker, ist mittlerweile ein trendiges Alkoholgetränk, das in Szenebars in New York und London serviert wird. Die letzten Schwarzbrenner haben das Zepter an ihre Erben übergeben. Philippe Martin ist ein Vertreter dieser neuen Generation von Absinthbrennern, die ihr Erbe pflegen und doch mit der Zeit gehen.
Man verdünnt den Absinth mit eisgekühltem
Wasser, aber niemals mit Eiswürfeln. Bloss keine Eiswürfel!
An der Strasse, die sich durch das Tal windet, steht ein kürzlich renoviertes altes Gebäude. Hier, in Couvet, wird seit Anfang des Jahres der Absinth La Valote Martin produziert. «Ich bin gleich da. Dieser Moment im Destillationsprozess ist entscheidend», begrüsst uns Philippe Martin hastig. Wenige Minuten später taucht er, umhüllt von schwerem Kräuterduft, wieder auf. Manche würden behaupten, er habe Absinth im Blut. Und damit hätten sie gar nicht so Unrecht, denn Philippes Vater, Francis Martin, agierte im grünen Untergrund.
«Natürlich wussten meine Schwestern und ich, was er da tat», bekennt der Unternehmer. «Uns war auch bewusst, dass wir nicht darüber sprechen durften. An den Tagen, an denen er destillierte, achtete er peinlich genau auf jedes Detail, zum Beispiel auf die Windrichtung. Die Dämpfe aus seiner Destille hätten ihn verraten können.»
Philippe Martin hat Boveresse verlassen und sich in diesem altehrwürdigen Gebäude aus dem Jahr 1868 niedergelassen. «Jetzt, wo ich einen einladenden Ort habe, organisiere ich Verkostungen und erzähle dabei die Geschichte des Absinths. Natürlich flechte ich auch ein paar persönliche Anekdoten ein.»
Neun Absinthe im Sortiment
Im Garten vor dem Gebäude wachsen einige der Pflanzen, die bei der Herstellung des Alkohols vonnöten sind: Wermutkraut und Römischer Wermut, Minze, Melisse und Ysop. Fenchel und Anis, die er aus dem Ausland bezieht, vervollständigen die Zutatenliste. «Mein Rezept ist das gleiche wie das meines Vaters. Vor dem Trinken verdünnt man den Absinth mit eisgekühltem Wasser, aber niemals mit Eiswürfeln. Bloss keine Eiswürfel!» Das Sortiment von Valote Martin umfasst neun Absinthe, darunter eine im Eichenfass gereifte sowie eine Bio-Variante. «Ich schätze die Tradition, aber ich möchte auch modernere Ansätze ausprobieren.»
Philippe Martin möchte das Kultgetränk nicht nur bekannter machen und vermarkten, er zeigt auch persönliches Engagement: Seit 2022 ist er Vorsitzender des Branchenverbands der Absinth-Produzenten. «Wir führen derzeit Gespräche, um eine geschützte geografische Angabe (g.g.A.) zu beantragen. Bislang war dies jedoch nicht möglich, da einige Brennereien – darunter auch meine – eine lokale Herkunft bestimmter Pflanzen fordern, was andere wiederum ablehnen.»
Weiden und Nadelwäldchen
Die Diskussion ist noch nicht vom Tisch. Unterdessen haben einige Bauern im Tal wieder damit begonnen, die für die Herstellung der Grünen Fee benötigten Zutaten anzubauen. «Besuchen Sie die Familie Baur in Le Mont-de-Travers», rät uns Philippe Martin. Nach einer kurzen Autofahrt und einer Reihe Serpentinen erreichen wir eines dieser typischen Hochplateaus des Jura mit ausgedehnten Weiden und Nadelwäldchen.
Auf der rechten Seite sticht ein unverkennbarer, grüner Pflanzstreifen ins Auge. Kein Zweifel, hier wird Wermut angebaut. Der charakteristische, bittersüsse Duft, der entsteht, wenn man die filigranen Blätter zwischen den Fingern zerreibt, bestätigt unsere Vermutung. Schon in wenigen Tagen wird man sie ernten und anschliessend trocknen.
Schinken in Asphalt
Wie bitte, Schinken in Asphalt? Diese lokale – und weltweit wohl einzigartige – Tradition sollte man sich keinesfalls entgehen lassen. Am Eingang der 1986 stillgelegten Asphaltminen von La Presta kann man diese kuriose Spezialität probieren, die früher von den Bergleuten zum Fest der Heiligen Barbara zubereitet wurde. Die Rezeptur ist einfach: Ein sorgfältig verpackter Schinken wird samt Knochen in das erhitzte Erdharz getaucht und langsam gegart. Heute wird dieser Gaumenschmaus von der Metzgerei Dänzer in Travers und dem Team des Café des Mines serviert und lockt neugierige Gäste weit über die Region hinaus.
Weitere Infos Asphaltminen, Site de la Presta, Travers, mines-asphalte.ch
Mozzarella aus dem Tal
Unten im Tal empfängt uns ein anderes Grün. Hier und da erstrecken sich grosse Wasserlachen, in denen seltsam anmutende Rinder baden. Es sind Wasserbüffel, die sich mit Vorliebe im schlammigen Nass suhlen. Im Gegensatz zu den Touristen ist dieser Anblick den Talbewohnern mittlerweile vertraut. Denn die Familie Stähli züchtet diese Rinder bereits seit 25 Jahren, um Käse zu produzieren – allen voran den begehrten «Mozzarella di Bufala». «Die Idee entstand 1996, aber erst im Jahr 2000 konnten wir das Projekt umsetzen», erzählt Georges Stähli. «Heute besitzen wir über 300 Tiere.»
Die beiden Brüder teilen sich die Arbeit: Georges versorgt die Tiere, während Daniel die Käseherstellung übernimmt. «Wir verarbeiten etwa 250’000 kg Milch pro Jahr. Büffelmilch ist mit 8 % Fett viel reichhaltiger als Kuhmilch, sodass man weniger davon benötigt, um Mozzarella herzustellen.» In einem Vierteljahrhundert haben sich ihre Käsespezialitäten sowohl im Grosshandel als auch in der Gastronomie etabliert. Der familiengeführte Hofladen in Travers ist ein beliebter Anlaufpunkt für Geniesser.
Von der Kakaobohne zur Schokolade
Das Val de Travers ist vor allem für seine Spirituosen und Naturlandschaften bekannt (siehe Kasten). Dass das grüne Tal auch Schokolade exportiert, ist weit weniger geläufig. «Haute chocolaterie» prangt in grossen Lettern auf dem cremefarbenen Putz eines renovierten Bauernhauses im Herzen von Môtiers. Wir befinden uns bei Jacot, einem 1949 gegründeten Unternehmen mit sechs Geschäftsstellen zwischen Genf und Zürich und einem erstklassigen Produktsortiment. Die Manufaktur ist nach wie vor im Neuenburger Tal ansässig. Hier werden die Kakaobohnen zu wahren Kunstwerken verarbeitet.
Das Unternehmen praktiziert das so genannte «Bean-to-Bar»-Verfahren, also die Herstellung von Schokolade aus rohen Kakaobohnen. In der Schweiz beherrschen nur etwa ein Dutzend Chocolatiers dieses puristische und äusserst anspruchsvolle Verfahren. In einem Raum neben dem Labor warten Dutzende mit Kakaobohnen gefüllte Jutesäcke auf ihren Einsatz. Sie verweisen auf die grössten Kakaoanbaugebiete der Welt: Salomonen, São Tomé, Madagaskar, Peru, Dominikanische Republik … Neben zeitgenössischen Kreationen finden sich in den Auslagen von Jacot auch schokoladige Spezialitäten, die lokale Traditionen aufgreifen, wie die Clous de Noiraigue oder die unwiderstehlichen Clandestines. Letztere werden mit einem Schuss Absinth aus der Brennerei von Philippe Martin verfeinert.
Der Kreis schliesst sich: Im smaragdgrünen Tal gehen Tradition und Gegenwart Hand in Hand. Das Val de Travers ist in jeglicher Hinsicht grün: Erst kürzlich trat es dem Programm Swisstainable bei, dem nationalen Label, das regionales Engagement für nachhaltigen Tourismus hervorhebt. Der Tag neigt sich im Reich der Grünen Fee dem Ende zu, die sich mit einem letzten flaschengrünen Flimmern allmählich in der Abenddämmerung verflüchtigt. Doch die Region birgt noch viele weitere Mysterien, die darauf warten, enthüllt zu werden.
Zwei unvergessliche Spots in der Natur
Areuse-Schluchten
Die Areuse entspringt oberhalb des Dorfes Saint-Sulpice (NE), durchfliesst das gesamte Val de Travers und bahnt sich dann ihren Weg nach Boudry und zum Neuenburgersee. In den engen Schluchten, die bei Wanderern besonders beliebt sind, verwandelt sich der ruhige Fluss in einen reissenden Strom. Brücken, Stege und Wasserstrudel runden dieses Naturerlebnis ab.
Creux-du-Van
Der Creux-du-Van ist ein imposanter Kalksteinkessel, der zu Fuss zugänglich ist: in nur wenigen Minuten vom Bergrestaurant Le Soliat aus oder in zwei Stunden über den legendären «Sentier des quatorze contours» mit Start in Noiraigue. Die schwindelerregende, 200 Meter hohe Naturarena beherbergt eine artenreiche Tierwelt, die man am besten in den frühen Morgenstunden, vor dem Eintreffen der zahlreichen Besucher, beobachten kann.
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